Alles fließt
Auf seinem Weg von der Karibik nach Nordeuropa bringt der Golfstrom unserem Kontinent ein mildes Klima, das in diesen Breitengraden auf der ganzen Welt einzigartig ist. Ohne den Golfstrom könnten wir uns jedes Jahr auf einen Winter einstellen, der so hart und kalt wie in Sibirien wäre.
Die Ozeane sind ständig in Bewegung. Manche dieser Bewegungen sind für das bloße Auge kaum sichtbar, andere hingegen äußern sich in reißenden Strömungen und Strudeln. Selbst auf einer scheinbar ruhigen Wasseroberfläche können Schiffe von ihrer gewählten Route abgetrieben werden. Die frühen Seefahrer im 15. und 16. Jahrhundert konnten sich dieses Phänomen noch nicht erklären.
Im Großen und Ganzen unterscheidet man zwischen drei Meeresbewegungen: der Gezeitenbewegung, der Oberflächenströmung und der Tiefenströmung. Während die Gezeitenbewegung die Meere in ihren Becken nur ein wenig hin- und herschwappen lässt, umspannen Oberflächen- und Tiefseeströmungen die gesamte Erde.
Der amerikanische Ozeanograph Wallace Broecker erfand angesichts dieser globalen Strömungsmuster den Begriff des "Förderbands der Ozeane" ("Ocean Conveyer Belt").
Das Förderband der Meere
Die größtenteils sichtbaren Meeresbewegungen sind die Oberflächenströmungen. Sie entstehen durch die Kraft des Windes und durch Reibung. Der Wind setzt die Wassermassen der Meere in Bewegung. Diese fließen jedoch nicht wie erwartet mit der Richtung des Windes, sondern werden durch die Coriolis-Kraft abgelenkt.
Die von dem Franzosen Gaspard de Coriolis 1835 beschriebene Kraft besagt, dass sich Objekte, die sich auf einem rotierenden Körper bewegen, abgelenkt werden. Die Erde ist hierbei der rotierende Körper, die Meeresströmung das sich bewegende Objekt.
Am besten nachvollziehen kann man die Coriolis-Kraft, wenn man daheim einen Globus in Bewegung setzt und anschließend einen Bindfaden vom Äquator Richtung Polkappen leicht über den Globus zieht. Der Bindfaden wird auf der Nordhalbkugel nach rechts, auf der Südhalbkugel nach links abgelenkt. Nach diesem Prinzip funktionieren auch die Oberflächenströmungen.
Tiefseeströmungen entstehen hingegen durch die unterschiedliche Dichte von Wasser. Hierbei spielen die Temperatur und der Salzgehalt die entscheidende Rolle. Kaltes Wasser ist schwerer als warmes; salzhaltiges Wasser schwerer als salzarmes. Dementsprechend zieht es kaltes, salzhaltiges Wasser in die Tiefe.
Dieses Phänomen ist im Nordatlantik am stärksten ausgeprägt. Auf ihrem Weg Richtung Nordpol sind die Oberflächenströmungen durch Verdunstung deutlich salzhaltiger und kälter geworden. Zudem treffen sie auf Kaltwasserströmungen, die vom Pol kommen.
Die Schichtung des Wassers wird instabil, die schwerer gewordenen Wassermassen sinken in tiefere Gefilde ab. Dort fließen sie in mehreren tausend Metern Tiefe ganz langsam in entgegengesetzter Richtung durch die Meeresbecken bis in den Südatlantik.
Hier treffen sie auf den Zirkumpolarstrom, der im Süden den gesamten Globus umströmt und die Wassermassen der drei Ozeane miteinander vermischt. Die so vermischten Wassermassen bewegen sich wieder an die Oberfläche, wo sie auf ihrem Weg Richtung Äquator wieder erwärmt werden. Der Kreislauf beginnt von vorne.
Von der Sonne erwärmt
Der Golfstrom ist also nur ein kleiner Teil des globalen Förderbandes, wenn auch ein sehr bedeutender. Er ist eine der schnellsten, mächtigsten und wärmsten Oberflächenströmungen der Meere. Gespeist wird er durch Wasser vom Nord- und Südäquatorialstrom, das durch die starke Sonneneinstrahlung in Äquatornähe erwärmt wird. Dieses Wasser wird dann durch Passatwinde von der Küste Afrikas bis in die Karibik getrieben. Auf bis zu 30 Grad Celsius hat sich das Meer an diesem Punkt erwärmt.
Durch die natürliche Landbarriere des amerikanischen Kontinents muss sich das Wasser nun einen anderen Weg suchen. Es wird durch den Golf von Mexiko gepresst, der im Norden nur einen Ausgang hat: die Straße von Florida. Mit einer Geschwindigkeit von zwei Metern pro Sekunde gelangt der sogenannte Floridastrom zurück in den Atlantik. Dort trifft er auf den aus Süden kommenden Antillenstrom. Erst hier bekommt der Strom seinen Namen, unter dem er bekannt ist: der Golfstrom.
Auf den folgenden gut 1000 Kilometern fließt der Golfstrom an der amerikanischen Ostküste entlang, bevor er beim Kap Hatteras in North Carolina nach Osten abzweigt. Die Ablenkung der Coriolis-Kraft und die in dieser Gegend vorherrschenden Westwinde zwingen ihn auf diesen Weg. Nun geht es geradewegs Richtung Nordosten.
Da der Golfstrom schon an Geschwindigkeit verloren hat, bewegt er sich nicht gradlinig, sondern in geschwungenen, wellenartigen Bewegungen fort. Nach etwa 1500 Kilometern fährt dem Golfstrom der aus Norden kommende, eiskalte Labradorstrom in die Seite. Die Folge: Die Wassermassen vermischen sich, der Golfstrom verliert an Kraft und Wärme.
Der Golfstrom teilt sich
Wissenschaftler sprechen nun vom Nordatlantikstrom, während sich im allgemeinen Sprachgebrauch immer noch die Bezeichnung Golfstrom gehalten hat. Schon kurze Zeit nach dem Aufeinandertreffen mit dem Labradorstrom teilen sich die Wassermassen in zwei große Ströme auf.
Der Kanarenstrom biegt Richtung Süden ab, fließt an der westafrikanischen Küste entlang und mündet schließlich wieder in den Nordäquatorialstrom. Dieser wärmt das Wasser wieder auf und transportiert es erneut Richtung amerikanische Küste. Der erste Kreis schließt sich.
Der Nordatlantikstrom hingegen bewegt sich auf die Küste Irlands zu, fließt an Nordschottland vorbei und trifft zu guter Letzt auf die Küste Norwegens. Auf dem Weg hat er mittlerweile viel Wärme verloren. Zudem ist der Salzgehalt des Stroms durch die ständige Verdunstung stark angestiegen. Das Wasser wird immer dichter, es wird förmlich in die Tiefe gezogen.
Der oberflächennahe Nordatlantikstrom löst sich auf, das Wasser fließt als Tiefenströmung zurück in den Atlantik, überquert den Äquator, landet im antarktischen Zirkumpolarstrom und erscheint alsbald wieder an der Oberfläche. Der zweite Kreis schließt sich.
Klimamotor Europas
Die Reise der Wassermassen an sich ist schon spektakulär, doch seine wirklich sichtbare Bedeutung erhält der Golfstrom erst durch den Einfluss, den er auf das Klima Europas ausübt. Der Westen Norwegens liegt auf gleicher geografischer Breite wie der Süden Grönlands und der Osten Kanadas.
Während in Grönland und Kanada nur sehr spärliche Vegetation auf dauerhaft gefrorenem Boden wächst, gedeihen an den Küsten Norwegens Obstbäume, Erdbeeren und Gemüse. An Irlands Südwestküste wachsen Palmen, in Nordschottland üppige Rhododendren.
All diese Pflanzen haben so weit im Norden eigentlich nichts verloren. Nur der Golfstrom macht es möglich. Durch das warme Wasser, das er mit sich führt, erwärmt sich auch die Luft an den Küsten, an denen er vorbeifließt. Das sorgt für so ein mildes Klima, dass zum Beispiel an der gesamten Westküste Norwegens die Häfen das ganze Jahr über eisfrei bleiben.
Droht Europa eine neue Eiszeit?
Doch was würde passieren, wenn der Golfstrom eines Tages versiegen würde? Wissenschaftler beschäftigen sich schon länger mit dieser Frage. Durch die globale Erderwärmung regnet es mehr und Gletscher schmelzen schneller. Der Salzgehalt des Meeres verringert sich und somit kann das Wasser nicht mehr so leicht in die Tiefe gelangen. Das globale Förderband wäre damit unterbrochen.
Die schrecklichsten Szenarien lassen vermuten, dass es in Europa im Winter durchschnittlich um mehrere Grad kälter wäre. In Nord- und Westeuropa wären dann im Winter Temperaturen und Schnee wie in Sibirien zu erwarten.
Roland Emmerich hat in seinem Katastrophenfilm "The Day After Tomorrow" schon mit diesem Szenario gespielt und Nordamerika einer neuen Eiszeit ausgesetzt. Wissenschaftler streiten dagegen noch, ob es überhaupt zu so einem Szenario kommen könnte.
Die meisten Ozeanographen sehen in dieser Frage noch dringenden Forschungsbedarf. Zwar hat man den Golfstrom in den vergangenen Jahrzehnten immer besser kennengelernt, viele Antworten hält er jedoch noch in seinen Wassermassen verborgen.
Eine 2021 veröffentlichte Studie vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung weist inzwischen nach, dass die atlantische Umwälzströmung, zu der auch der Golfstrom gehört, in den vergangenen 100 Jahren sehr wahrscheinlich an Stabilität verloren hat. Ein Zusammenbruch des Systems könnte gravierende Folgen für das globale Klima haben. Doch auch hier müssen die Forschenden noch viele weitere Untersuchungen durchführen, um zu genaueren Erkenntnissen zu kommen.
(Erstveröffentlichung: 2010. Letzte Aktualisierung: 26.04.2022)