Schmerzempfinden als wichtiges Warnsignal
Womit Medikamentenhersteller so werben, klingt manchmal nach der Antwort auf die Gebete aller Rückengeschädigten und Migränepatienten: "Endlich schmerzfrei" oder "Wir stoppen den Schmerz da, wo er entsteht". Aber was wäre denn, wenn wir wirklich völlig schmerzfrei wären?
In der Evolution hat sich das Schmerzempfinden als Warnsignal entwickelt. Schmerzen sagen uns, dass unserem Körper gerade Schaden zugefügt wird. In der Regel lösen sie bei uns ein Verhalten aus, das uns einerseits veranlasst, uns aus der Gefahrenzone zu retten und andererseits den Heilungsprozess zu fördern. Deshalb halten wir ein gebrochenes Bein still oder schonen uns nach einer Operation.
Menschen, die ohne Schmerzempfindungen leben, sind in echter Gefahr. Sie können sich zwar wie alle Menschen schwer verletzen, spüren aber ihre Wunden nicht. Was zuerst wie ein Geschenk des Himmels klingt, entpuppt sich für die Betroffenen schnell als Fluch. Besonders gefährlich wird es beispielsweise bei inneren Verletzungen, die von außen nur schwer oder gar nicht zu erkennen sind.
Kinder, die keine Schmerzen wahrnehmen
Es gibt Kinder, die frei von Schmerzempfinden auf die Welt kommen. Sie nehmen Kälte, Wärme, Berührung oder den eigenen Körper völlig normal wahr. Unter dem Gefühl Schmerz können sie sich aber nichts vorstellen.
Wenn sie älter werden, beginnen manche, Gesten zu imitieren, die Schmerz ausdrücken. Denn Schmerzäußerungen haben auch eine soziale Komponente: Sie zeigen, dass wir menschlich und verletzlich sind.
Die Körper dieser Kinder zeigen deutlich, dass Schmerzfreiheit alles andere als ein Segen ist: Aufgeschürfte Knie oder blaue Flecken bleiben zwar unbeachtet, aber auch alle anderen, zum Teil schwere Verletzungen bleiben unbemerkt.
Die Kinder sind von Narben übersät, haben ihre Zunge oder Fingerkuppen teilweise abgekaut und ihre Beine und Arme sind krumm von unentdeckten und deshalb unbehandelten Knochenbrüchen.
Knochenbrüche werden nicht bemerkt
Gerade die kleinen Unfälle der Kindheit bringen uns bei, welche Situationen und Verhaltensweisen potenziell gefährlich sein können und welche wir deshalb in Zukunft vermeiden sollten.
Das "Strumpf-" und "Handschuh-Gefühl"
Völlige Schmerzfreiheit kommt nur sehr selten vor. Etwas häufiger ist das sogenannte Strumpf- und Handschuh-Gefühl. Arme und Beine zeigen bei den Betroffenen eine geringere Sensibilität, als ob sie ständig Strümpfe und Handschuhe tragen würden.
Dabei kann der Gefühlsverlust von einem verringerten Schmerzempfinden bis zur völligen Taubheit gehen. Das Symptom kann angeboren sein, aber auch durch Krankheiten verursacht werden.
Die Infektionskrankheit Lepra war schon zu biblischen Zeiten bekannt. Im Volksglauben herrschte lange die Meinung vor, dass Leprakranken Arme und Beine verfaulen und dann abfallen. Tatsächlich liegt auch bei der Lepra eine Störung des Fühlens zugrunde.
Die Infektion mit dem Bakterium Mycobacterium leprae führt zum Absterben von Nervenzellen. Die Patienten nehmen Wunden nicht mehr wahr und laufen deshalb Gefahr, ihre Gliedmaßen zu verlieren.
Dass Arme und Beine abfallen, hat aber einen realen Hintergrund. Die Aussätzigen waren oft gezwungen, unter katastrophalen Hygienebedingungen zu leben. Da sie in Armen und Beinen nichts fühlen konnten, merkten sie nicht, wenn Ratten ihnen im Schlaf Finger und Zehen abnagten.
Auch Diabetes kann zum Strumpf-Handschuh-Gefühl führen. Diese Krankheit ist vor allem in wohlhabenderen Ländern weit verbreitet. Wird sie nicht behandelt, wirkt sie sich auch auf die Nerven aus. Diese werden durch den zu hohen Blutzuckerspiegel geschädigt. Das Ergebnis: Arme und Beine verlieren ihre Fähigkeit zu fühlen.
Aus der Haut gefahren
Neben dem Verlust der Schmerzwahrnehmung kann auch die Eigenwahrnehmung verloren gehen. Wie etwa beim akuten sensorischen Neuropathie-Syndrom. Betroffene spüren ihre eigenen Körperteile nicht mehr und wissen nicht, wo sie sich gerade befinden, ohne sie anzuschauen.
Aus der Vergangenheit sind nur wenige Fälle dieser Krankheit bekannt. In seinem Buch "Pride and a Daily Marathon" ("Stolz und ein täglicher Marathon") erzählt der britische Neurophysiologe Jonathan Cole die unglaublich scheinende Geschichte eines jungen Mannes, der im Alter von 19 Jahren sein Körpergefühl verliert. Er spürt zwar Wärme, Kälte und auch Schmerzen, kann sie aber nicht mehr seinem Körper zuordnen. Da er weder die Berührung seines Körpers mit dem Betttuch, noch den Boden unter den Füßen spüren kann, fühlt er sich, als triebe er ohne Körper durch den Raum.
Ohne Rückmeldung aus dem Körper hat das Gehirn für seine Bewegungsbefehle keine Anhaltspunkte. Der junge Mann kann sich nicht kontrolliert bewegen und seine Körperteile beginnen, selbstständig in die verschiedensten Richtungen zu wandern.
Im Laufe der Zeit lernt er wieder neu, seinen Körper zu koordinieren. Durch höchste Konzentration und ständige optische Kontrolle schafft er es, zu gehen und sogar einen Beruf auszuüben. Diese mentale Anstrengung, die hinter jeder scheinbar alltäglichen Bewegung steckt, ist für gesunde Menschen nicht vorstellbar.
Den Boden unter den Füßen spüren
(Erstveröffentlichung: 2007. Letzte Aktualisierung: 30.07.2018)
Quelle: WDR