Reger Schiffsverkehr über den Nordpol, Erdölfelder und Erzabbau am Meeresboden: Was für Umweltschützer ein Horrorszenario ist, lässt bei Reedern, Ölfirmen und manchen Politikern die Herzen höher schlagen. Fragt sich nur, wer das größte Stück vom arktischen Kuchen abbekommt – der Kampf um den Nordpol hat längst begonnen.
So wenig Packeis wie noch nie
Im Sommer 2012 gab es ein Rekordminimum der arktischen Eisfläche. Nach Angaben des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven hatte das Packeis im Nordpolarmeer eine Ausdehnung von 3,4 Millionen Quadratkilometern. Zwischen dem Beginn der Messungen im Jahr 1979 und dem Jahr 2000 waren dagegen noch durchschnittlich 6,7 Millionen Quadratkilometer des Arktischen Ozeans eisbedeckt.
Seitdem nimmt die Eisfläche kontinuierlich ab, wenn auch mit größeren Schwankungen. So maßen die Forscher im September 2013 immerhin eine Ausdehnung von 5,1 Millionen Quadratkilometern.
"Es kommt allerdings nicht nur auf die Fläche, sondern auch auf die Dicke des Eises an", sagt Christian Haas, Professor für die Geophysik des arktischen Eises an der York University im kanadischen Toronto. "Während in den 1990er Jahren die häufigste Eisdicke mehr als zwei Meter betrug, messen Expeditionen heute oft Eisdicken, die unter einem Meter liegen. "
Kalte Winter bei uns, Erdbeeren auf Grönland
Gleichzeitig nehmen die Wasserflächen zu, die nur noch im Winter mit wenige Zentimeter dünnem, einjährigem Eis bedeckt sind. Das ist das Ergebnis von Satelliten-Messungen. Christian Haas ist unter anderem damit befasst, die Ergebnisse solcher Daten aus dem Weltraum mit Messungen vor Ort abzugleichen. "Nur so können wir die Resultate der Satellitenmissionen richtig bewerten und einordnen", sagt Haas.
Die Folgen der arktischen Eisschmelze sind teilweise paradox. Sie führt zum Beispiel bei uns zu kälteren Wintern. Grund dafür ist der normalerweise vorhandene Luftdruckunterschied zwischen der Arktis und unseren mittleren Breitengraden.
Ist dieser Gegensatz hoch, entsteht ein starker Westwind, der im Winter warme und feuchte atlantische Luftmassen bis nach Europa führt. Die Eisschmelze verringert nun diesen Luftdruckgegensatz. So kann kalte arktische Luft bis nach Europa vordringen und uns eisige Winter bescheren.
Auf Grönland dagegen führen das schmelzende Eis und die damit einhergehenden höheren Temperaturen dazu, dass plötzlich Ackerbau auf der Insel möglich ist. 300 Kilometer nördlich des Polarkreises macht man Heu und pflügt Äcker.
Jedes Jahr vermeldet Grönland eine neue Rekord-Kartoffelernte, im dortigen Forschungszentrum für Landwirtschaft werden sogar erfolgreich Erdbeeren gezüchtet. Eine Chance für die dort lebenden Inuit, die bisher auf Gemüselieferungen aus dem fernen Dänemark angewiesen waren, zu dem Grönland politisch gehört.
Auch stellt die Landwirtschaft eine neue Einkommensquelle dar – denn die traditionelle Robbenjagd wird immer schwieriger, weil die Tiere aufgrund des Klimawandels in andere Regionen abwandern.
Gold, Erz und Öl unter dem Nordpol
"Wirtschaftlich könnte Grönland auch von den jetzt besser zugänglichen Rohstoffvorkommen profitieren", sagt Karsten Piepjohn, Geologe bei der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) in Hannover. Er ist Mitglied eines kleinen Teams von Wissenschaftlern, das sich an der BGR mit geologischer Grundlagenforschung in der Arktis beschäftigt.
Karsten Piepjohns Forschungsziel ist es, mehr über die Entstehungsgeschichte dieser Region zu erfahren. Langfristig sieht die Bundesregierung durch das Engagement der BGR aber die Chance, einen Fuß in der Tür zu haben, wenn es um die Nutzung der arktischen Rohstoffquellen geht.
Schon heute werden Gold und Diamanten, Kupfer und Nickel, Eisenerz und Erdöl am Rand der arktischen Region gefördert. Es liegt nahe anzunehmen, dass sich auch weiter nördlich solche Vorkommen befinden. Allein unter dem arktischen Festlandsockel vermuten Experten etwa 90 Milliarden Barrel Öl und 50 Billionen Kubikmeter Gas, fast ein Fünftel der weltweiten Reserven.
Für den Abbau wären keine herkömmlichen Bohrplattformen über der Wasseroberfläche notwendig. Moderne Technik macht es möglich, Bohrroboter direkt auf dem Meeresgrund zu installieren. Über Pipelines wird das gewonnene Öl oder Gas dann direkt zum Festland transportiert.
Proteste von Umweltschützern
Können sich die Menschen in der Arktis also über künftig sprudelnde Ölmillionen und ein leichteres Leben in milderem Klima freuen? Umweltschutzorganisationen wie Greenpeace widersprechen da heftig. Nicht nur, dass die Ausbeutung von neuen fossilen Brennstoffen den Treibhauseffekt und damit auch die Eisschmelze in der Arktis weiter anheizen würde.
Die Aktivisten sehen auch handfeste Umweltprobleme auf die Region zukommen: Bei einem Unfall ähnlich dem auf der Ölplattform Deep Horizon 2010 würden niedrige Temperaturen und fehlendes Sonnenlicht den natürlichen Abbau des Öls deutlich verlangsamen. Zudem würde sich ausgelaufenes Öl unter den Eisschollen sammeln, wofür es bisher kein erfolgversprechendes Bergungsverfahren gibt.
Umweltschützer verweisen auch darauf, dass gerade das Ökosystem der Arktis besonders fragil ist. Denn unter den harten Bedingungen dort musste jeder Organismus eine besonders hohe Anpassungsleistung vollbringen, um überleben zu können. Entstanden ist dadurch ein hochkomplexes Zusammenspiel der einzelnen Arten, das empfindlich auf Störungen von außen reagiert.
Um die wirtschaftliche Ausbeutung der Arktis zu stoppen, hatten 28 Greenpeace-Aktivisten 2013 an der Ölplattform Prirazlomnaya des russischen Energieunternehmens Gazprom protestiert und wurden daraufhin festgenommen. Erst drei Monate später amnestierte sie ein Beschluss der russischen Duma und sie durften nach Hause reisen.
Neue Schiffsroute über Sibirien
Als weitere Bedrohung für die Arktis sehen Umweltschützer die neuen Schiffsrouten an, die durch das schwindende Packeis entstehen. Profitieren würde davon zwar der Handel zwischen Europa und Asien, denn die bisherige Route durch den Suezkanal ist mehr als 7000 Kilometer länger als etwa die Nord-Ost-Passage an der Küste von Sibirien entlang.
So dauert eine Fahrt vom niederländischen Rotterdam bis ins japanische Yokohama nur noch 20 Tage, statt wie bisher 33. 2010 nutzten diese Transitroute in den fernen Osten immerhin bereits zehn Frachter, 2012 sogar 46.
Ein Begleitservice mit Eisbrechern ist für die Containerfrachter allerdings immer noch notwendig, wofür Russland eine saftige Gebühr verlangt. "Dies wird auch auf absehbare Zeit so bleiben", sagt Christian Haas von der York University. Denn auch wenn die Route entlang der sibirischen Küste völlig eisfrei sei, könnten Winde immer wieder Eisschollen von nördlicheren Regionen nach Süden treiben.
"Bei einer massiven Zunahme des Schiffsverkehrs müssten zudem neue Versorgungs- und Notfallhäfen eingerichtet werden, die bisher nicht vorhanden sind", erklärt Haas. Die damit einhergehende Verschmutzung, so fürchten Umweltschutzorganisationen, würde zusammen mit den Abgasen und anderen Schiffsabfällen die Arktis stark belasten.
Säbelrasseln beim Kampf um den Nordpol
Metalle, Öl und Schifffahrtsrechte – all dies hat schon lange Begehrlichkeiten bei den fünf Anrainerstaaten der Arktis geweckt: Russland, Kanada, USA sowie Dänemark (über Grönland) und Norwegen (über Spitzbergen). Alle außer den Vereinigten Staaten haben die UN-Seerechtskonvention (UNCLOS) ratifiziert, die regelt, welche Rechte Staaten an Gebieten auf hoher See haben.
So steht jedem Land zunächst ein Bereich von 200 Seemeilen vor der eigenen Küste zu, der zum eigenen Hoheitsgebiet gerechnet wird. Darüber hinausgehende Ansprüche können geltend gemacht werden, wenn der Staat nachweist, dass der eigene Festlandsockel über diese Zone hinausreicht.
Kurz vor Ablauf der entsprechenden Frist hat Ende 2013 Kanada vor der UNO-Festlandsockel-Kommission (CLCS) seine Ansprüche an den Nordpol angemeldet. Russland und Norwegen hatten bereits vorher Gebietsforderungen geltend gemacht, im Februar 2014 folgte Dänemark.
Die Länder argumentieren damit, dass ihr Staatsgebiet mit dem "Lomonossow-Rücken" verbunden ist. Diesem unterseeischen Gebirgsrücken kommt im Streit um den Nordpol eine besondere Rolle zu, denn er verläuft direkt über den Nordpol hinweg.
"Wer nachweisen kann, dass der eigene Kontinentalsockel mit dem Lomonossow-Rücken verbunden ist, hätte damit direkten Zugriff auf den Nordpol", sagt Karsten Piepjohn von der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe. Ein großes Konfliktpotenzial sieht er in dieser Frage trotzdem nicht. Denn die meisten Rohstoffvorkommen lägen sowieso in den 200-Meilen-Zonen der jeweiligen Länder, zudem sei eine Förderung im tiefen Seegebiet direkt unter dem Nordpol sehr schwierig.
Dass beim Kampf um die Arktis vor allem auch Prestige-Denken im Spiel ist, hat Russland bereits 2007 gezeigt: Ein Mini-U-Boot setzte bei einer Expedition schon mal eine russische Flagge aus Titan auf den Meeresgrund direkt am Nordpol.