"Aftermath" (1966)
Dass die Rolling Stones schon in ihrer Frühphase brillante Singles schreiben, zeigt sich schnell auch in den Charts. Auf Albumlänge kann die Band anfangs aber nicht überzeugen. Die Langspielplatten sind oft wahl- und lieblos zusammengestellt und beinhalten hauptsächlich Coverversionen.
Das ändert sich mit "Aftermath", ihrem vierten Album, das erstmals nur Eigenkompositionen enthält. Die Songs entstehen in den Jahren 1965 und 1966, die Band ist in ihrem Songwriting zunehmend sicherer, zudem stärkt der Top-Hit "Satisfaction" das Selbstbewusstsein.
Mit "Aftermath" erfinden sich die Rolling Stones neu: Der Blues, der anfangs noch den Sound dominierte, rückt in den Hintergrund und dient als Basis, von dem aus die Band sich auf die Suche nach ihrem ureigenen Stil macht.
Keith Richards markantes Gitarrenspiel wechselt zwischen Rock-, Boogie-, Country- und Blues-Motiven hin und her, während Mick Jagger nicht nur stimmlich, sondern auch textlich den großen Zampano gibt.
Mit Songs wie "Under My Thumb", "Stupid Girl" oder "Out Of Time" begründet er sein bis heute anhaltendes Image als Macho. Dazu kommt die wachsende Experimentierfreude der Band, die bestimmt auch der Konkurrenz geschuldet war – ein Jahr zuvor brachten die Beatles ihr viel beachtetes Album "Rubber Soul" heraus.
So besticht "Lady Jane" durch Folk-Elemente, bei "Mother's Little Helper" kommt eine Sitar zum Einsatz, während "Paint It Black" sich an orientalisch anmutende Melodiefolgen anlehnt.
"Beggars Banquet" (1968)
1967 geht bei den Rolling Stones einiges schief. Mick Jagger, Keith Richards und Brian Jones werden wegen Drogenbesitzes verhaftet und zu Gefängnisstrafen verurteilt (die allerdings in Bewährungsstrafen umgewandelt werden), die Presse und die Öffentlichkeit stürzen sich auf die Band.
Die Stones gelten als "Bad Boys" und Skandalband schlechthin. Andrew Oldham, der erste Manager der Band, schmeißt die Brocken hin, und die 1967 veröffentlichte Platte "Their Satanic Majesties Request" ist sowohl künstlerisch als auch von den Verkaufszahlen her ein Flop. Die Stones scheinen am Ende zu sein.
Doch schon ein Jahr später gelingt ihnen mit "Beggars Banquet" die Wiederauferstehung. Die Hippie-Reminiszenzen, die ohnehin nicht so richtig zu der Band passen wollten, werden über Bord geworfen. Die Flower-Power-Ära nähert sich dem Ende, und die Stones sind die Ersten, die dieses Gefühl der Wut und Enttäuschung vertonen.
Auf "Beggars Banquet" regiert die harsche Realität. Die Stones singen in "Sympathy For The Devil" über den Mord an Robert Kennedy, "Street Fighting Man" wird vielerorts als Aufruf zum Straßenkampf verstanden und von vielen US-Radiosendern boykottiert.
Den Zustand der Welt, wie die Band sie sieht, verkörpert die ursprüngliche Version des Plattencovers, die von der Plattenfirma zunächst nicht freigegeben wird, sehr anschaulich: eine mit Graffiti und Sprüchen beschmierte Toilette.
"Let It Bleed" (1969)
Nur fünf Monate nach dem Tod von Gitarrist und Bandgründer Brian Jones, den die Band kurz zuvor entlassen hatte, erscheint "Let It Bleed". Anstatt in ihrer Trauer innezuhalten, stürzt sich die Band in die Arbeit und hält die Schlagzahl hoch.
Der Weg zum unverkennbaren Sound und Stil, den die Band mit "Beggars Banquet" eingeschlagen hat, wird fortgesetzt. Einerseits verfeinern die Stones ihre traditionelle Seite, die im Blues, Country und englischen Folk verwurzelt ist.
Andererseits beherrschen sie auch die härtere Gangart, die Ende der Sechziger von Rockbands wie Led Zeppelin, Cream oder den Doors populär gemacht wird.
Eingerahmt wird "Let It Bleed" von zwei außergewöhnlichen Stücken, die mit zum Besten gehören, was die Band jemals veröffentlich hat: Der Eröffnungssong "Gimme Shelter" fasziniert mit höchst emotionalen Background-Vocals der Gospel-Sängerin Merry Clayton, Keith Richards übersteuerter Gitarre, pistolenschuss-artigen Schlagzeugelementen von Charlie Watts sowie Mick Jaggers apokalyptischen Texten über Mord, Totschlag und Zerstörung, denen er ganz zum Schluss doch noch einen Funken Hoffnung beimengt.
Und beim Abschluss "You Can't Always Get What You Want" drehen die Stones am ganz großen Rad: Mit 50-köpfigem Chor und pastoraler Orgelbegleitung schaffen sie eine Rockoper, bei der die Musik den Text über Schuld, Sühne und Verlangen kongenial flankiert.
"Sticky Fingers" (1971)
18 Monate Pause liegen zwischen den Veröffentlichungen von "Let It Bleed" und "Sticky Fingers" – die längste Pause, die sich die Stones bis dato gegönnt haben.
Doch die Band ist in dieser Zeit nicht untätig, im Gegenteil: Der neue Gitarrist Mick Taylor fügt sich sehr gut ein und hat im Gegensatz zu Brian Jones Spaß am Live-Spiel, was die Band zu mehreren Tourneen nutzt.
Dazu kommen Unstimmigkeiten mit dem Management und ihrer Plattenfirma Decca, die dazu führen, dass die Stones ihren bisherigen Plattenvertrag "aussitzen".
"Sticky Fingers" erscheint im eigenen Label "Rolling Stones Records" und erregt schon mit dem von Andy Warhol gestalteten Cover Aufsehen. Es zeigt den Schritt eines männlichen Jeansträgers und ist mit einem Reißverschluss ausgestattet, der sich sogar öffnen lässt.
Doch die Stones machen auch mit dem Inhalt von sich reden. "Sticky Fingers" zeigt eine Band, die sich gefunden hat und es schafft, zwischen verschiedenen Stilen hin- und herzuspringen, ohne dabei ihre Identität zu verlieren.
Die Stones sind die Stones, egal, ob sie trockenen Riff-Rock wie "Brown Sugar" spielen, mit "Wild Horses" eine Blaupause des modernen Countryrocks erstellen, Soul-Sänger Otis Redding die Ehre erweisen ("I Got The Blues") oder wie in "Can't You Hear Me Knocking" mit Funk- und Salsa-Anleihen Santana Konkurrenz machen.
"Exile On Main St." (1972)
Das Exil im Albumtitel ist durchaus wörtlich zu nehmen: 1970 stehen die Stones trotz ausverkaufter Tourneen und Millionen verkaufter Platten kurz vor dem Bankrott, und als Ausweg aus dem Dilemma, das ihrem ausschweifenden Lebenswandel, vor allem aber den rigiden englischen Steuergesetzen geschuldet ist, sehen sie nur die Flucht ins Ausland.
Die Band lässt sich in Frankreich nieder: Mick Jagger geht nach Paris, Keith Richards bezieht eine Villa in einem Fischerdorf nahe Nizza, wo er mit Heroin und Freunden abhängt, Parties feiert und auf seiner Gitarre herumklampft. Als die Band kein geeignetes Studio in Südfrankreich findet, richtet sie im Keller von Richards' Villa kurzerhand selbst eines ein.
Die Aufnahmen zu "Exile On Main St." laufen oft chaotisch: Immer wieder fällt der Strom aus, wegen der Hitze und Feuchtigkeit verstimmen und verstellen sich Instrumente und Geräte.
Das Motto der Band auf dieser Platte heißt: ohne Plan zum Ziel. Mal werden Instrumente getauscht, mal eine Session mit Musikern angesetzt, die gerade zu Besuch sind. Mal sind alle Bandmitglieder anwesend, mal nur eines – meist ist das der über dem Studio wohnende Richards, der der Platte entsprechend seinen Stempel aufdrückt.
Stilistische Schubladen interessieren die Band schon lange nicht mehr, und diese Freiheit nutzen die Stones. Ohne aufwändige Produktionstricks, befreit von Bombast und Ballast, hauen die Stones 18 raue, ungeschliffene Songs raus, die den Kern der Band offenlegen.
Ob Blues, Soul, Country oder Rock – die Stones sind Experten auf jedem Gebiet und zeigen sich mit diesem Album auf dem Höhepunkt ihres Schaffens. Und obwohl "Exile On Main St." der ganz große Hit fehlt, sind sich viele Kritiker und Fans einig: Eine bessere Stones-Platte gibt es nicht.
(Erstveröffentlichung 2012. Letzte Aktualisierung 28.02.2020)