Feilschende Favoriten und ein neuer Pokal
Die deutsche Mannschaft geht als einer der Favoriten in die Weltmeisterschaft im eigenen Land. Viele der Spieler, die in der – wie es bis heute heißt – "besten deutschen Mannschaft aller Zeiten" 1972 Europameister wurden, sind auch zwei Jahre später noch dabei.
Die Erwartungen der deutschen Fans sind im Sommer 1974 entsprechend hoch. Doch nicht nur Deutschland fiebert der WM entgegen. Das internationale Interesse ist riesig, die Vermarktung des Fußballturniers, seines Logos und der Maskottchen erreicht bis dahin nicht gekannte Ausmaße.
Die Vorfreude in Deutschland wird in der Woche vor Beginn der WM jedoch getrübt: Im Trainingslager feilschen Offizielle des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) mit den Spielern um die WM-Prämien. Der DFB will im Fall des Titelgewinns nur 30.000 Mark pro Spieler zahlen, der Mannschaft ist das zu wenig. Schließlich setzt sich Mannschaftskapitän Franz Beckenbauer gegen die DFB-Vertreter durch.
Mit dem Spiel von Titelverteidiger Brasilien gegen Jugoslawien (0:0) beginnt am 13. Juni die Fußball-WM in Deutschland. 16 Mannschaften kämpfen um den Titel. Zum ersten Mal nicht dabei: England. Die Briten mussten sich in der Qualifikation Polen geschlagen geben.
Und noch ein Novum: Erstmals spielen die Mannschaften um den neu geschaffenen Weltpokal. Die bisherige Trophäe – den Coupe Jules Rimet – durfte Brasilien nach dem dritten Titelgewinn 1970 behalten.
1974 wurde erstmals um den neuen WM-Pokal gespielt
Erste Finalrunde: Tore, Pfiffe, Sensationen
Die deutsche Mannschaft startet mit zwei Siegen standesgemäß, aber glanzlos ins Turnier. Dem 1:0 gegen Chile folgt ein 3:0 gegen Australien, das die Fans im Hamburger Stadion aber nicht zufrieden stellt. Trotz der drei Tore pfeifen sie die deutschen Spieler aus. Kapitän Franz Beckenbauer von Bayern München revanchiert sich mit abfälligen Gesten und Spucken – und wird endgültig zum Buhmann des Hamburger Publikums.
Im letzten Vorrundenspiel kommt es zum lange erwarteten ersten deutsch-deutschen Duell: Die Bundesrepublik (BRD) spielt gegen die Deutsche Demokratische Republik (DDR). Sportlich ist die Partie unbedeutend, da beide schon für die nächste Runde qualifiziert sind. Aber politisch und emotional wird das Spiel zum Kräftemessen zweier Gesellschaftssysteme stilisiert. Kapitalismus gegen Sozialismus – es geht ums Prestige.
Die Westdeutschen gehen als klare Favoriten ins Spiel, doch sie enttäuschen auf ganzer Linie. Die Stars wirken kraft- und ratlos gegen die engagiert kämpfenden DDR-Spieler. Zwölf Minuten vor Schluss dann die Sensation: Jürgen Sparwasser umkurvt Horst-Dieter Höttges und Berti Vogts, lässt auch Torwart Sepp Maier alt aussehen und schießt sich mit seinem 1:0 für die DDR in die Fußball-Geschichtsbücher.
Ein Tor für die Geschichtsbücher: Jürgen Sparwasser trifft für die DDR
Zweite Finalrunde: Gardinenpredigt und Wasserschlacht
Nach der Blamage gegen die DDR kracht es im deutschen Team. Noch auf der Busfahrt nach dem Spiel nimmt Kapitän Beckenbauer seine Kollegen ins Gebet. Und er überzeugt Trainer Helmut Schön davon, Taktik und Aufstellung zu ändern. So rückt unter anderem der junge Mönchengladbacher Rainer Bonhof in die erste Elf.
Beckenbauers Donnerwetter hat Erfolg. In der zweiten Finalrunde, die 1974 statt Viertel- und Halbfinale gespielt wird, überzeugt die deutsche Mannschaft zumindest kämpferisch. Nach dem 2:0 gegen Jugoslawien und dem 4:2 gegen Schweden trifft sie auf Polen.
Die Polen, die schon in der ersten Finalrunde mit technisch gutem Tempofußball überzeugten, haben ebenfalls zwei Siege zu Buche stehen. Das Spiel hat also Endspielcharakter, der Sieger zieht ins Finale ein. Und dann das: Ein Unwetter verwandelt den Rasen des Frankfurter Waldstadions in eine Seenplatte.
Mit Pumpen und Walzen kämpft die Feuerwehr gegen die Wassermassen. Schließlich wird die Partie angepfiffen, trotzdem gleicht die "Wasserschlacht" von Frankfurt einem Glücksspiel – mit dem besseren Ende für die Deutschen. In der 75. Minute schießt Mittelstürmer Gerd Müller seine Mannschaft ins Finale.
Das dramatische Finale
Trotz großer Namen und dreier Siege in der zweiten Finalrunde sehen sich die Deutschen vor dem Endspiel eher als Außenseiter. Die Niederländer haben mit ihrem attraktiven und temporeichen Konzept des "totalen Fußballs" die Fans begeistert und sind zum heißesten Anwärter auf den Weltmeister-Titel aufgestiegen. Das sehen nicht nur Experten so, sondern auch die niederländischen Spieler.
Ihr großes Selbstbewusstsein demonstrieren die Niederländer auch auf dem Platz. Bevor ein deutscher Spieler auch nur einmal den Ball berühren kann, steht es schon 1:0 für die Niederlande: Topstar Johann Cruyff entwischt seinem Bewacher Berti Vogts und wird von Uli Hoeneß an der Strafraumgrenze von den Beinen geholt. Nach 63 Sekunden gibt es Elfmeter für die Niederlande. Johan Neeskens trifft gegen Torwart Sepp Maier.
Schon in der 2. Minute trifft Johan Neeskens zum 1:0
Trotz des frühen Schocks kommen die Deutschen nach und nach besser ins Spiel – auch weil die Niederländer den Fehler machen, Deutschland vorführen zu wollen, statt auf das 2:0 zu drängen. In der 26. Minute dribbelt sich Bernd Hölzenbein durch den Strafraum der Niederländer, kommt zu Fall und erhält einen Elfmeter. Schwalbe oder Foul – darüber wird bis heute diskutiert. Der junge Verteidiger Paul Breitner schnappt sich Ball und Verantwortung und gleicht zum 1:1 aus.
Die Deutschen werden immer stärker und noch vor der Pause belohnt: Auf der rechten Seite setzt sich Rainer Bonhof durch. Er passt in die Mitte auf Gerd Müller. Dem verspringt der Ball zwar leicht, doch dann schießt er aus einer schnellen Drehung aufs Tor: 2:1 – ein typisches Gerd-Müller-Tor bringt Deutschland in Führung.
Gerd Müller trifft zum 2:1
Nach der Pause drängen die Niederlande auf den Ausgleich, doch die deutsche Abwehr und Torwart Sepp Maier retten immer wieder. Und auch die deutsche Mannschaft bleibt mit Kontern stets gefährlich. Ein weiterer Müller-Treffer wird wegen angeblichen Abseits nicht als Tor gegeben.
Nach 90 aufregenden Minuten mit vielen Torchancen ist es geschafft: Schiedsrichter Jack Taylor pfeift ab, und Deutschland ist zum zweiten Mal nach 1954 Fußball-Weltmeister.
(Erstveröffentlichung 2006. Letzte Aktualisierung 08.09.2021)
Quelle: WDR