Verschlüsselte Botschaften von höheren Mächten
Lange Zeit glaubten viele Menschen, Träume seien indirekte oder verschlüsselte Botschaften von Göttern und Dämonen. Oft wurden sie für Weissagungen oder Orakel gehalten. So glaubten Kriegsherren wie der persische König Xerxes, sie könnten ihre Schlacht nur gewinnen, wenn das Orakel im Traum zu ihnen sprach.
Diese Überzeugung reichte bis in die Anfänge des christlichen Glaubens: Vor der Schlacht mit seinen heidnischen Widersachern träumte der römische Kaiser Konstantin der Große von einem Engel, der ihm das Kreuz als Siegesfahne entgegenhielt und ihm zurief: "In hoc signo vinces" – "Unter diesem Zeichen wirst du siegen". Konstantin zog mit dem Kreuz auf der Fahne in die Schlacht vor Rom und bezwang seine Gegner Licinius und Maxentius.
Auch in der Neuzeit finden sich Beispiele für solche vorhersehenden Träume: So soll der frühere US-Präsident Abraham Lincoln davon geträumt haben, einem Attentat zum Opfer zu fallen, bevor er drei Tage später tatsächlich im Theater von einem fanatischen Südstaatler ermordet wurde.
Abraham Lincoln (1809-1865)
Biblische Offenbarungen
Eine Fülle von prophetischen Träumen liefert die Bibel. Beispiele für im Schlaf übermittelte Botschaften und Offenbarungen aus dem Alten Testament sind die Träume der Pharaonen, des babylonischen Königs Nebukadnezar II. und der Traum Jakobs von der Himmelsleiter und dem Landversprechen Gottes.
Im Buch Genesis 28, 12-13, wird er so dargestellt: "Da hatte er einen Traum: Er sah eine Treppe, die auf der Erde stand und bis zum Himmel reichte. Auf ihr stiegen Engel Gottes auf und nieder. Und siehe, der Herr stand oben und sprach: Ich bin der Herr, der Gott deines Vaters Abraham und der Gott Isaaks. Das Land, auf dem du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben."
Aus dem Alten Testament kennt man zudem den Traum Josefs von den sieben fetten und den sieben mageren Jahren. Auch die Gründer religiöser Orden wie Franz von Assisi, Don Bosco oder der Heilige Bruno standen angeblich über ihre Träume mit Gott in Verbindung.
Den Metaphysikern zufolge – den Wissenschaftlern, die das hinter der sinnlich erfahrbaren, natürlichen Welt Liegende und die Zusammenhänge des Seins erforschen – liegt dem menschlichen Traum der Glaube an die Seele und den Geist zugrunde.
Diesen Glauben findet man in fast jeder Religion und Zivilisation. So tragen die Fellachen, die frühen Bewohner des Nildeltas, einen Turban auf dem Kopf, damit die Seele während des Schlafes nicht aus der Schädeldecke entweicht.
Kenianische Massai soll man nicht plötzlich aus dem Schlaf reißen, weil – so glauben sie – der umherstreifende Geist sonst nicht in seinen Körper zurückfinden könnte.
Der Traum wird erforscht
Was passiert eigentlich im Körper, während wir träumen? Mit dieser Frage beschäftigen sich Neurobiologen erstmals gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Sie entdecken, dass der nächtliche Traum einer gewissen zeitlichen Struktur folgt. 1880 erkennt der ehemalige Marinearzt Jean Gélineau die vollständige Abwesenheit jeglicher Muskelspannung.
Anfang des 20. Jahrhunderts reißt Alfred Maury, Professor am Collège de France, seine Versuchspersonen regelmäßig aus dem Schlaf. Zu seiner Überraschung stellt er fest, dass sich die befragten Menschen nur selten an ihre Träume erinnern.
1944 stellen Neurologen bei schlafenden Männern periodisch wiederkehrend drei bis vier Erektionen pro Nacht fest, ohne sie jedoch in Verbindung mit dem Träumen zu bringen. Später erst erkennt man, dass die jeweils gut 25 Minuten dauernden Erektionsphasen exakt dem Zyklus der Traumstadien entsprechen.
1953 beobachtet Eugen Aserinsky schnelle Augenbewegungen – "Rapid Eye Movements" (REM) – bei einem schlafenden Kind. Er stellt die Hypothese auf, dass die REM-Phasen die Traumstadien des Menschen sind.
Schlaf- und Traumphasen
1959 wird das Puzzle aus all diesen Erkenntnissen zusammengesetzt: Der Neurologe Michel Jouvet lässt die Erkenntnisse seiner Kollegen aus den vergangenen Jahrzehnten Revue passieren und ergänzt diese mit seinen eigenen Forschungen.
Demnach gibt es zwei Schlafzustände: Während der Tiefschlaf-Phase (Slow-Wave-Phase) wird an der Hirnrinde eine immer langsamer werdende elektrische Aktivität gemessen, der Schläfer bewegt nicht die Augen und eine gewisse Muskelspannung ist messbar. Weckt man einen Menschen in der Slow-Wave-Phase auf, hat er keine Traumerinnerung.
Die REM-Phase oder Phase der Augenbewegungen wiederholt sich etwa drei- bis viermal in jeder Nacht. Sie zeichnet sich durch ein neuroelektrisch ebenso aktives Gehirn wie im Wachzustand aus, doch die Muskelspannung fehlt völlig.
Michel Jouvet nennt die REM-Phase wegen des scheinbaren Widerspruchs von wachem Hirn und schlaffem Körper auch die Phase des paradoxen Schlafes. Versuchspersonen, die in dieser Phase geweckt werden, können sich an ihre Träume erinnern.
Jouvet schließt aus den Schilderungen seiner Testschläfer, dass die Augenbewegungen der Betrachtung von Traumszenen entsprechen können. Dieser "Traumblick" stützt Eugen Aserinskys Schlussfolgerung, dass die Traumphase mit der REM-Phase gleichzusetzen ist.
Traumszene, gemalt von Salvador Dali
Erholung fürs Hirn
Aus neurophysiologischer Sicht ist der Traum ein für den Körper überaus wichtiger Mechanismus. Der Neurologe Michel Jouvet vertritt die These, dass die Bilder und Szenen des Traums zur ständigen Programmierung unserer Gehirnzellen gehören.
Dass wir unlogische Ereignisse im Traum nicht als Widersprüche wahrnehmen, liegt laut Jouvet daran, dass bestimmte Neuronen im Gehirn, im Gegensatz zu anderen Nervenzellen, zeitweilig Ruhe brauchen. Im Traum sind sie ausgeschaltet und verhindern das kritische Bewusstsein.
Was passiert beim Träumen im Gehirn?
Katalog der unterbewussten Wünsche
Für die Traumpsychologie oder -phänomenologie ist die rein auf die körperlichen Vorgänge bezogene Erklärung für den Traum bestenfalls eine Ausgangsbasis.
Denn Neurophysiologen messen der Bedeutung von Träumen für die Psyche keinerlei weitere Bedeutung zu. Bei tiefenpsychologischer Prüfung jedoch ergeben zunächst unverständliche Traumbilder, paradoxe Ereignisse, Widersprüche oder Verschiebungen einen Sinn.
Zwar ist der Traum ein bis heute nicht eindeutig erklärbares Phänomen; es gilt aber als erwiesen, dass bei Menschen, die regelmäßig am Schlafen und somit am Träumen gehindert werden, ernsthafte seelische und körperliche Störungen entstehen.
Um 1900 revolutioniert der Psychoanalytiker Sigmund Freud die psychologische Traumforschung. Für den Begründer der Metapsychologie ist der Traum der Hüter des Schlafes und immer Ausdruck eines unterbewussten Wunsches.
Ohne Bezug zur Anatomie des Gehirns konstruiert Freud einen vollständigen psychischen Apparat. Er glaubt, Traumsymbole ohne Rücksicht auf die individuellen Erfahrungen eines Menschen eindeutig zuordnen und katalogisieren zu können.
Sigmund Freud, Begründer der Psychoanalyse
Träume als Spiegel der Seele
Im Gegensatz zu Freud stellt sein Schüler Carl Gustav Jung, bis 1913 ein Anhänger der Freud'schen Psychoanalyse, bei der Traumforschung das individuelle Erleben jedes Menschen in den Mittelpunkt. Jung erkennt, dass sich ein Traumsymbol nicht auf einen einzigen Begriff reduzieren lässt. Für ihn zeigen Träume einen seelischen Tatbestand an.
Als fortlaufender Dialog mit dem bewussten Ich wird diesem in jeder Nacht von unserer Persönlichkeit Nr. 2 – ein von Jung geprägter Begriff für das kollektive Unbewusste – ein Spiegel vorgehalten. Nach der Jung’schen Traumlehre ist es an jedem einzelnen, den Traum unter Bezugnahme der bisherigen Erfahrungen sowie vergangener und aktueller Lebenssituationen richtig zu entschlüsseln.
Traumforscher Carl Gustav Jung
(Erstveröffentlichung: 2005. Letzte Aktualisierung: 05.01.2021)
Quelle: WDR