9. November 1938 – die jüdischen Synagogen brennen
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Nationalsozialismus
Novemberpogrome
Brennende Synagogen, zerstörte Geschäfte und Wohnungen: In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurden 30.000 Juden verhaftet und viele in den Tod getrieben. Schuld war nicht – wie offiziell behauptet – der spontane Volkszorn, sondern ein gezielter Pogrom der Nazis.
Von Kathrin Schamoni
Judenfeindliche Politik vor 1938
Der Begriff Pogrom stammt aus dem Russischen und bedeutet eine "gewalttätige Ausschreitung gegen bestimmte Minderheiten". Nicht erst 1938, sondern bereits mit der Machtübernahme Adolf Hitlers 1933 begann die judenfeindliche Politik der nationalsozialistischen deutschen Regierung.
Am 1. April 1933 gab es die erste zentral gesteuerte Terroraktion im Deutschen Reich: den Juden-Boykott. "Kauft nicht bei Juden" stand auf Schildern an jüdischen Geschäften geschrieben.
Mit dem "Reichsbürgergesetz" und dem "Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" vom 15. September 1935 schufen die Nationalsozialisten die Grundlage dafür, die Rechte der Juden immer mehr einzudämmen. Jüdische Beamte wurden entlassen, Ärzten wurde die Approbation entzogen, Anwälte durften nicht mehr praktizieren. Diskriminierungen, Misshandlungen und Verhaftungen waren an der Tagesordnung.
1933 – Der Beginn der Vernichtung alles Jüdischen
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Die Polen-Ausweisung
500.000 deutsche Juden lebten Anfang 1933 im Deutschen Reich. Rund ein Viertel davon war bis zum Herbst 1938 ins Ausland emigriert. Das reichte den Nationalsozialisten nicht: Sie verschärften ihre "Judenpolitik" und beschleunigten die Massenvertreibungen.
Das betraf auch die ausländischen Juden im Deutschen Reich. Knapp 100.000 waren es Mitte 1933, mehr als die Hälfte von ihnen waren Polen. In der Nacht vom 27. auf den 28. Oktober 1938 sollten sie alles verlieren: Ohne Vorbereitung, ohne Sachen packen und mitnehmen zu können, holten Polizisten die polnischen Juden ab.
17.000 Menschen wurden abgeschoben. Zu Tausenden mussten sie an Bahnhöfen warten – ohne Essen, ohne Trinken, ohne überhaupt zu wissen, was mit ihnen passiert – und wurden dann in geschlossene Waggons gepfercht und an die Grenze gebracht.
Denn die polnische Regierung wollte die Polen, die längerfristig oder dauerhaft im Ausland lebten, durch ein neues Gesetz ausbürgern. Deutschland befürchtete daraufhin, Tausende staatenlose Juden nicht mehr legal abschieben zu können und beherbergen zu müssen.
Der Machtkampf zwischen der deutschen und polnischen Regierung spitzte sich zu. Zwei Tage, bevor die polnische Verordnung in Kraft trat, schleppten deutsche Polizisten und Leute der SS die Menschen wie Vieh an die polnische Grenze.
Die ersten Transporte wurden noch hinübergelassen, dann wurde die Einreise verweigert. Rund 7000 Menschen blieben bis 1939 im Flüchtlingslager in Zbąszyń an der deutsch-polnischen Grenze.
Wie Vieh wurden Juden deportiert
Ein Mordanschlag als Vorwand
Unter den Abgeschobenen waren Sendel und Ryfka Grynszpan aus Hannover mit ihren Kindern Berta und Markus. Ihr Sohn Herschel Grynszpan, der illegal in Paris lebte, erfuhr am 3. November 1938 per Postkarte vom Leid der Familie. Am Morgen des 7. November verübte der 17-Jährige ein tödliches Attentat auf den höheren Beamten der deutschen Botschaft in Paris, Legationssekretär Ernst vom Rath.
Grynszpans Motiv wurde nicht eindeutig geklärt, jedoch gab er in einem Verhör an, dass er aus Protest gegen die judenfeindliche Politik der Deutschen und aus Rache für das schlimme Schicksal seiner Eltern und Geschwister geschossen hatte. Das Attentat nutzten die Nationalsozialisten als Vorwand für den schrecklichen Pogrom, der nur wenige Tage später die Juden im Deutschen Reich traf.
Der Attentäter: Herschel Grynszpan
Die Nacht der brennenden Synagogen
Der 9. November war für die Mitglieder der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) ein wichtiges Datum. Jedes Jahr gedachten sie mit dem Marsch auf die Feldherrnhalle in München des missglückten Hitler-Putschs von 1923.
Im Münchener Rathaussaal waren die Spitzen der Partei an diesem 9. November 1938 anschließend zusammengekommen, auch Reichskanzler Adolf Hitler war unter ihnen. Am späten Abend erreichte ihn die Nachricht vom Tode Ernst vom Raths. Hitler sprach nicht wie gewöhnlich zur Versammlung, sondern beriet sich mit Joseph Goebbels, seinem Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, und fuhr dann in seine Münchener Wohnung.
Goebbels hielt nach Hitlers Aufbruch eine antisemitische Hetzrede, in der er Rache und Vergeltung für das Attentat forderte. Vereinzelt war es schon in einigen Orten, unter anderem in Kurhessen und Magdeburg-Anhalt; zu angeblich spontanen judenfeindlichen Ausschreitungen gekommen.
Hitler habe hierzu gesagt, so Goebbels in seinem Vortrag, dass "derartige Aktionen von der Partei weder voranzutreiben noch zu organisieren seien. Soweit sie spontan entstünden, sei ihnen aber auch nicht entgegenzutreten". Die Parteispitzen verstanden Goebbels Rede als Aufruf zum Pogrom, den die Partei organisieren sollte, als dessen Urheber sie aber nicht in Erscheinung treten durfte.
Was folgte, war die Nacht der brennenden Synagogen: Polizisten und Leute der Sturmabteilung in Zivil brachen in die jüdischen Gotteshäuser ein, zerstörten alles, was sie in die Hände bekamen, und zündeten die gesamte Einrichtung an.
Die Juden wurden aus ihren Wohnungen geholt, misshandelt, bedroht, verhaftet, ihr gesamtes Hab und Gut vernichtet. Jüdische Geschäfte, Schulen, Waisenhäuser – kaum etwas blieb verschont. Die Polizei sah zu, die Feuerwehr war nur vor Ort, um ein Übergreifen der Brände auf nichtjüdische Häuser zu verhindern.
Die Synagoge von Bielefeld steht 1938 in Flammen
Die Bilanz des Schreckens
7500 Geschäfte wurden in dieser Nacht demoliert. 1400 Synagogen, also die Hälfte aller deutschen und österreichischen Synagogen, waren nur noch Schutt und Asche. 30.000 Juden, vor allem Männer, wurden in den Folgetagen verhaftet und in Konzentrationslager gebracht.
91 Menschen sollen nach offiziellen Angaben während der Pogromnacht zu Tode gekommen sein. In Wirklichkeit waren es weitaus mehr: Zwischen 1300 und 1500 Menschen starben durch den Schock an einem Herzinfarkt, nahmen sich aus Leid und Scham das Leben oder wurden in den Konzentrationslagern zu Tode gequält.
Am 10. November verkündete Goebbels durch die Presse, dass weitere Ausschreitungen zu unterlassen seien. Dennoch dauerte der Pogrom in einigen Städten bis zum 13. November an. Wegen der Masse an Scherben durch zerbrochene Schaufenster entstand der verharmlosende Begriff "Reichskristallnacht" für den 9. November 1938.
Großer Schaden: 7500 Geschäfte wurden demoliert
Nicht der Höhepunkt, erst der Anfang
Wie ging es für die Juden in Deutschland danach weiter? Entscheidend war der 12. November 1938, an dem die "Besprechung über die Judenfrage" stattfand. Viele Juden hielten den 9. November damals für den Höhepunkt des Schreckens – doch es war erst der Anfang. Die Ergebnisse dieser Besprechung markierten "den Übergang von der Verfolgung zur existentiellen Vernichtung der Juden in Deutschland", stellt der Historiker Hans-Jürgen Döscher in seinem Buch über die Novemberpogrome fest.
Die Juden wurden danach vollends aus dem beruflichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben verbannt: Sie durften keine öffentlichen Veranstaltungen mehr besuchen, Handel, Handwerk und Gewerbe waren verboten, jüdische Kinder durften nicht am Unterricht nichtjüdischer Schulen teilnehmen, Juden wurden die Führerscheine entzogen.
Die Diskriminierungen, Verbote und Auflagen wurden stetig rigoroser, bis sie das gesamte alltägliche Leben umfassten – Juden in Deutschland wurde damit jegliche Existenzgrundlage genommen.
Die Situation wurde für viele so ausweglos, dass es ab November 1938 zu einer regelrechten Massenflucht kam. Doch bürokratische Hürden erschwerten die Auswanderung der jüdischen Menschen. Hinzu kam, dass das Ausland nur zögerlich Hilfsbereitschaft zeigte. Der Schrecken gipfelte im Holocaust, im systematischen Völkermord an Millionen Juden Europas.
Massenflucht nach den Novemberpogromen
(Erstveröffentlichung 2008. Letzte Aktualisierung 22.11.2019)
Quelle: WDR