Der Traum von Europa
Rein nüchtern betrachtet ist die Europäische Union (EU) ein Staatengebilde, umgeben von rund 12.000 Kilometern Land- und rund 45.000 Kilometern Seegrenze. Für viele Flüchtlinge gilt die Aussicht auf ein Leben in der EU als das höchste Ziel.
Doch die Staaten der EU wollen die Flüchtlinge nicht aufnehmen und schotten sich zunehmend ab. Und die Abwehr der Flüchtlinge beginnt nicht erst vor den Grenzen Europas, sondern bereits in ihren Herkunftsländern.
Entwicklungshilfe gegen Grenzkontrollen
In den vergangenen Jahren war die Flucht über das Mittelmeer einer der häufigsten Wege nach Europa. Doch die Zahlen nehmen stark ab: Laut der UNO-Flüchtlingshilfe kamen im Jahr 2016 insgesamt rund 370.000 Menschen unerlaubt über das Mittelmeer. 2019 waren es nur noch rund 125.000 Flüchtlinge, die meisten kamen aus Afghanistan, Syrien und der Türkei nach Griechenland. Auch die zentrale Mittelmeerroute nach Malta und Italien ist inzwischen weniger frequentiert, meist von Menschen aus Algerien, der Elfenbeinküste und aus Bangladesch.
Andere versuchen über den Landweg nach Europa zu gelangen. Vor allem über die Türkei nach Griechenland oder Bulgarien, seltener quer durch Weißrussland oder durch die Ukraine, nach Polen, Ungarn oder Rumänien.
Um diese Fluchtwege zu schließen, errichtet die Europäische Union eine Art Bollwerk. Mit einigen Anrainerstaaten wie beispielsweise Libyen, Tunesien, der Ukraine und Weißrussland bestehen seit mehr als einem Jahrzehnt Abkommen.
Bereits mit dem libyschen Staatschef Muammar al-Gaddafi gab es Vereinbarungen, die Flüchtlinge gar nicht erst außer Landes zu lassen. Lange Zeit galt Gaddafi zumindest in Italien als zuverlässiger Partner, solange er dafür Sorge trug, die libysche Grenze zum Tschad abzuriegeln und die abgeschobenen Flüchtlinge notfalls auch wieder zurückzunehmen.
Im Gegenzug revanchierte sich die italienische Regierung bei dem nordafrikanischen Staat mit moderner Technik und Devisen. Entwicklungshilfe gegen abgefangene Flüchtlinge. Ein ähnliches Abkommen gab es auch mit Tunesien unter dem bis 2011 autokratisch regierenden Präsidenten Ben Ali.
2016 schloss die Europäische Union mit der Türkei ein Abkommen, mit dem erreicht werden sollte, dass weniger Flüchtlinge über das östliche Mittelmeer von der Türkei nach Griechenland kommen. Hauptsächlich ging es um syrische Flüchtlinge, die wegen des Krieges in Syrien in die Türkei geflohen sind. Die Türkei verpflichtete sich im Abkommen, ihre Grenzen nach Europa stärker zu kontrollieren, damit die Flüchtlinge in der Türkei bleiben.
Als Gegenleistung bekam das Land finanzielle Hilfen, und die EU stellte in Aussicht, schneller über die Abschaffung des Visumszwangs für türkische Bürger und den EU-Beitritt der Türkei zu verhandeln. Außerdem verpflichtete sich die EU, für jeden Flüchtling, der von Griechenland zurück in die Türkei abgeschoben wird, im Gegenzug einen Flüchtling direkt aus der Türkei aufzunehmen.
Die Zahl der Flüchtlinge auf der östlichen Mittelmeerroute ging seitdem stark zurück. Kritiker behaupten aber, mit dem Abkommen habe sich die EU von der Türkei erpressbar gemacht. Sie sahen sich bestätigt, als der türkische Präsident Erdogan im Februar 2020 erklärte, die Türkei sei mit dem neuen Ansturm von Menschen aus Syrien überfordert. Außerdem habe die EU nicht alle Versprechen erfüllt, daher fühle er sich nicht mehr an das Abkommen gebunden und habe die Grenzen zu den EU-Ländern Bulgarien und Griechenland wieder geöffnet.
Als daraufhin Tausende Menschen zu den Grenzen strömten, führte dies zu chaotischen Verhältnissen, denn die EU hielt diese Grenzen nach wie vor geschlossen.
Im Jahr 2017 schloss Italien ein Abkommen mit Libyen ab: Dafür, dass die "libysche Küstenwache" Schlepperboote mit Flüchtlingen abfängt, erhält sie Geld von Italien und der EU. Aber auch dieses Abkommen steht in der Kritik, denn es gibt viele Berichte darüber, dass diese Küstenwache selbst teilweise aus Menschenhändlern besteht, die brutal gegen Flüchtlinge vorgehen.
Wie Europa seine Grenzen bewacht
In Europa sind die Staaten an den Außengrenzen der Europäischen Union für die Grenzsicherung und die Verhinderung der illegalen Einreise verantwortlich. Dabei setzen sie zunehmend auf den Ausbau ihrer stark gesicherten Zaunanlagen. Alleine im Jahr 2014 gab Griechenland mehr als fünf Millionen Euro aus, um eine zwölf Kilometer lange Zaunanlage an der Landgrenze zur Türkei zu errichten.
Auch Bulgarien hat inzwischen entlang seiner 270 Kilometer langen Grenze zur Türkei einen Zaun errichtet, der Flüchtlinge fernhalten soll.
Die Europäische Union verfügt zwar nicht über eigene Grenzpolizisten, dafür gibt es die Grenzschutzagentur Frontex. Die Agentur zählt rund 1500 Mitarbeiter und verfügt über ein Budget, welches seit der Gründung im Jahr 2004 kontinuierlich erhöht wird. Im Jahr 2018 lag es bei 320 Millionen Euro.
Ein Großteil des Budgets wird in die Forschung und Technik investiert – vor allem in Überwachungstechnik, darunter Nachtsichtgeräte und Drohnen. Folglich befinden sich die Mitgliedsstaaten technisch auf dem neuesten Stand. Geld fließt auch in die Aufrüstung der Polizei und in Zaunanlagen, die die Menschen von ihrer Flucht nach Europa abhalten sollen.
Seit 2007 flossen rund vier Milliarden Euro an die Grenzstaaten. Nach Angaben von Frontex wurde mehr als die Hälfte davon in die Überwachungstechnik, in die Aufrüstung der Polizei und in Zaunanlagen investiert, die die Menschen von ihrer Flucht nach Europa abhalten sollen.
Hunderte Millionen Euro ließ sich die EU bis 2020 alleine das Projekt "Eurosur" kosten. Es dient der verstärkten Überwachung der Außengrenzen im Mittelmeerraum. Dazu werden Drohnen eingesetzt, Satelliten und Sensoren.
Kritiker rechnen allerdings damit, dass Eurosur wesentlich teurer werden wird. Sie behaupten außerdem, das Projekt würde weniger zur Rettung als vielmehr zur Überwachung und Abwehr der Flüchtlinge eingesetzt. Im Jahr 2019 beschloss die EU, dass Frontex-Mitarbeiter in Zukunft auch bei Abschiebungen und Grenzkontrollen tätig werden sollen.
"Heiße Abschiebung"
Doch es bleibt nicht alleine bei der Abwehr von Flüchtlingen oder bei verstärkten Grenzkontrollen. Kritische Beobachter der EU-Grenzpolitik weisen auf "heiße Abschiebungen" – sogenannte "Push-Back-Aktionen" hin. Dabei werden Flüchtlinge wieder hinter den Grenzzaun oder aufs Meer hinaus gedrängt, ohne dass ihnen die Möglichkeit gegeben wurde, Asyl zu ersuchen – für viele Juristen ein Verstoß gegen EU-Recht und das Völkerrecht.
Grenzpolitik als Abschreckung. Die wird in den Grenzstaaten auch deshalb angewendet, weil nach der "Dublin-Verordnung" derjenige Staat für die Durchführung eines Asylverfahrens verantwortlich ist, in den der Flüchtling eingereist ist. Damit liegt die größte Last der Abwehr von unerwünschten Einwanderern auf den Grenzländern.
Seenotretter als "Brücke nach Europa"
Da der Landweg nach Europa inzwischen besser gesichert wird, nehmen viele Flüchtlinge den Weg über das Mittelmeer in Kauf. Dies gilt als die gefährlichste Wassergrenze der Welt.
Laut EU starben zwischen 2015 und 2020 mehr als 13.000 Menschen bei dem Versuch, Europa über das Mittelmeer zu erreichen. Oft waren sie sich selbst überlassen, wenn sie in Seenot gerieten.
Die unmittelbaren Anrainerstaaten wie Italien sind zuständig für die Seekontrollen. Erst die Schiffskatastrophe vor Lampedusa im Herbst 2013, bei der 366 Menschen ums Leben kamen, löste ein Umdenken aus: Für rund 9,3 Millionen Euro pro Monat startete die italienische Regierung die Aktion "Mare Nostrum". Dabei patrouillierte die italienische Marine im gesamten Seeraum bis zur libyschen Küste. Auf diese Weise konnten Zehntausende von Flüchtlingen innerhalb eines Jahres aus Seenot gerettet werden.
Trotz der wiederholten Aufforderung der italienischen Regierung beteiligte sich die EU nicht an den Kosten. Italien fühlte sich mit der Flüchtlingsproblematik durch die EU im Stich gelassen. Im Oktober 2014 endete "Mare Nostrum". Eine Fehlentscheidung, wie sich inzwischen herausgestellt hat.
Inzwischen sind mehrere EU-Operationen im Mittelmeer unterwegs. Sie heißen zum Beispiel "Indalo", "Themis" oder "Poseidon" und sollen in Seenot geratene Flüchtlinge retten. Gleichzeitig will man gegen kriminelle Schleuser vorgehen, die Flüchtlingen gegen viel Geld eine – meist lebensgefährliche – Überfahrt versprechen. Zwischen 2015 und 2020 haben die EU-Missionen nach eigenen Angaben mehr als 500.000 Menschen auf dem Mittelmeer das Leben gerettet.